Forscher haben möglicherweise das schnellste Schmelzen aller Zeiten beobachtet

Das K1-XV-Linienspektrum von Beryllium-Oxid ändert seine Struktur abhängig vom  Projektil: Bei stark geladenen  Xe31+-Ionen zeigt sich eine metallische Struktur.

Das K1-XV-Linienspektrum von Beryllium-Oxid ändert seine Struktur abhängig vom Projektil: Bei stark geladenen Xe31+-Ionen zeigt sich eine metallische Struktur. © HZB/Schiwietz

Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrum Berlin haben bei Beryllium-Oxid (BeO) exotisches Verhalten beobachtet, wenn dieses mit schnellen Schwerionen beschossen wird: Die Elektronen des BeO scheinen nach dem Beschuss geradezu „verwirrt“ und vergessen völlig die Materialeigenschaften ihrer Umgebung. Die Messergebnisse zeigen Veränderungen in der Elektronenstruktur an, die durch ein extrem schnelles Schmelzen rund um die Einschussbahn der Schwerionen erklärt werden können. Wenn diese Interpretation zutrifft, wäre es das schnellste Schmelzen, das je beobachtet wurde. Die Forscher publizieren dieses Ergebnis in Physical Review Letters (DOI: 10.1103/Phys.Rev.Lett.105, 187603 (2010)). Die Daten, die zu dieser Publikation führten, entstammen Messungen am Ionenstrahllabor (ISL) und wurden nach dessen Abschaltung ausgewertet.

Das Team um Prof. Dr. Gregor Schiwietz bestrahlte in seinen Experimenten einen Beryllium-Oxid-Film mit schnellen Schwerionen, deren Ladung so stark ist, dass sie eine maximale Zerschlagungskraft besitzen. Anders als in bislang üblichen Verfahren wurde die Energie der Schwerionen so gewählt, dass sie hauptsächlich mit deren äußeren Bindungselektronen in Wechselwirkung treten. Wenn Schwerionen in das Material eindringen, zeigen sich in der unmittelbaren Umgebung der eingeschossenen Ionen üblicherweise zwei Effekte: Die Elektronen in unmittelbarer Umgebung heizen sich auf und die Atome werden stark geladen. Dabei werden Auger-Elektronen emittiert, deren Energiezustände messbar sind und im sogenannten Linienspektrum dargestellt werden. Das Linienspektrum ist für jedes Material charakteristisch und wird im Normalfall bei Beschuss mit Schwerionen nur leicht verändert.

Zum weltweit ersten Mal beschossen die HZB-Forscher nun aber einen Ionenkristall (BeO), der Isolator-Eigenschaften hat, mit sehr schnellen Schwerionen (Xenon-Ionen) und konnten einen bisher unbekannten Effekt nachweisen: Das Linienspektrum der Auger-Elektronen ändert sich stark, es ist „verwaschen“ und zu höheren Energien hin gestreckt. Gemeinsam mit einem Physiker-Team aus Polen, Serbien und Brasilien haben die Wissenschaftler beobachtet, dass die Auger-Elektronen, die das aufgeheizte BeO-Material emittiert, deutlich metallische Signaturen zeigen. Die Auger-Elektronen scheinen ihre Isolator-Eigenschaften komplett „vergessen“ zu haben. Dies sehen die Wissenschaftler als klaren Beweis dafür, dass die Bandstruktur sehr schnell zusammen¬bricht, wenn das BeO mit Schwerionen beschossen wird – und zwar in weniger als rund 100 Femtosekunden (eine Femtosekunde ist ein Millionstes von einem Millionsten einer Millisekunde). Auslöser für den Zusammenbruch sind die hohen Elektronentemperaturen von bis zu 100.000 Kelvin. Das Material des ansonsten kalten Festkörpers bleibt aber langfristig insgesamt intakt.

Die Ergebnisse der HZB-Wissenschaftler liefern einen starken Hinweis auf ultraschnelle Schmelzprozesse rund um die Einschussbahn der Schwerionen. Dem Schmelzen folgt ein Ausglühen, das alle dauerhaften Anzeichen des Schmelzvorgangs löscht. Prof. Schiwietz hofft, dass bei anderen ionischen Kristallen ebensolche schnellen Schmelzprozesse gefunden werden, der Prozess des Ausglühens aber unterdrückt ist. In diesem Fall wäre eine Anwendung für Programmierungen im Femtosekundenbereich vorstellbar.

Das Helmholtz-Zentrum Berlin für Materialien und Energie (HZB) betreibt und entwickelt Großgeräte für die Forschung mit Photonen (Synchrotronstrahlung) und Neutronen mit international konkurrenzfähigen oder sogar einmaligen Experimentiermöglichkeiten. Diese Experimentiermöglichkeiten werden jährlich von mehr als 2500 Gästen aus Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen weltweit genutzt.

Das Helmholtz-Zentrum Berlin betreibt Materialforschung zu solchen Themen, die besondere Anforderungen an die Großgeräte stellen. Forschungsthemen sind Materialforschung für die Energietechnologien, Magnetische Materialien und Funktionale Materialien. Im Schwerpunkt Solarenergieforschung steht die Entwicklung von Dünnschichtsolarzellen im Vordergrund, aber auch chemische Treibstoffe aus Sonnenlicht sind ein wichtiger Forschungsgegenstand. Am HZB arbeiten rund 1100 Mitarbeiter/innen, davon etwa 800 auf dem Campus Lise-Meitner in Wannsee und 300 auf dem Campus Wilhelm-Conrad-Röntgen in Adlershof.
Das HZB ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e.V., der größten Wissenschaftsorganisation Deutschlands.

Franziska Rott