Exotischer Materiezustand: "Flüssige" Quantenspins bei tiefsten Temperaturen beobachtet

Ein Ausschnitt aus dem Kristallgitter der Probe verdeutlicht, dass die Spins widersprüchlichen Anforderungen ausgesetzt sind. Die grünen und roten Balken zwischen Gitterplätzen symbolisieren ferromagnetische Wechselwirkungen. Die blauen Balken dagegen die antiferromagnetischen.

Ein Ausschnitt aus dem Kristallgitter der Probe verdeutlicht, dass die Spins widersprüchlichen Anforderungen ausgesetzt sind. Die grünen und roten Balken zwischen Gitterplätzen symbolisieren ferromagnetische Wechselwirkungen. Die blauen Balken dagegen die antiferromagnetischen. © HZB

Ein Team am HZB hat experimentell eine sogenannte Quanten-Spinflüssigkeit in einem Einkristall aus Kalzium-Chrom-Oxid nachgewiesen. Dabei handelt es sich um einen neuartigen Materiezustand. Das Besondere an dieser Entdeckung: Nach gängigen Vorstellungen war das Quantenphänomen in diesem Material gar nicht möglich. Nun liegt eine Erklärung vor. Die Arbeit erweitert das Verständnis von kondensierter Materie und könnte auch für die zukünftige Entwicklung von Quantencomputern von Bedeutung sein. Die Ergebnisse sind nun in Nature Physics veröffentlicht.

Es entspricht unserer alltäglichen Erfahrung, dass Materie bei tiefen Temperaturen gefriert und die Atome eine feste, regelmäßige Struktur bilden. Auch in magnetischen Materialien kommen die magnetischen Momente der Elektronen (Spins) bei sinkenden Temperaturen zur Ruhe und richten sich starr aus. Allerdings  gibt es seltene Ausnahmen: In sogenannten Quanten-Spinflüssigkeiten bleiben die Elektronenspins selbst bei Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt beweglich. Nach bisherigem Verständnis sind dafür antiferromagnetische Wechselwirkungen zwischen den Spins verantwortlich, die die Spins antiparallel ausrichten. So können sich die Spins an den Ecken eines Dreiecks nicht zu beiden Nachbaratomen gleichzeitig antiparallel (antiferromagnetische Kopplung) ausrichten. Diese „Frustration“ sorgt dafür, dass die Spins selbst am absoluten Nullpunkt nicht zur Ruhe kommen und wie in einer Flüssigkeit beweglich bleiben. Die parallele Ausrichtung (ferromagnetische Kopplung) ist dagegen immer gut möglich. Entsprechend kamen bislang nur wenige Materialien für Spinflüssigkeiten in Frage.


Einkristalle mit komplexen magnetischen Wechselwirkungen

Nun hat ein HZB-Team um Prof. Dr. Bella Lake erstmalig am HZB Einkristalle aus Kalzium-Chrom-Oxid  (Ca10Cr7O28) hergestellt und untersucht. Kalzium-Chrom-Oxid ist aus so genannten Kagomé-Gittern aufgebaut, die an japanische Flechtmuster aus Dreiecken und Sechsecken erinnern. Dabei bildet sich in Kalzium-Chrom-Oxid ein komplexes Set an magnetischen  Wechselwirkungen: So gibt es nicht nur antiferromagnetische Kopplungen, sondern auch sehr starke ferromagnetische Wechselwirkungen, die nach dem gängigen Modell eine Spinflüssigkeit verhindern müssten. Experimente an verschiedenen Neutronenquellen in Deutschland, Frankreich, England und den USA zeigten jedoch, dass die Spins in diesen Proben auch noch bei tiefsten Temperaturen von 20 Millikelvin hochbeweglich bleiben. Auch Myonen-Spektroskopie-Messungen am Paul-Scherrer-Institut in der Schweiz belegten, dass sich die Spins in diesem Kristall wie eine Flüssigkeit verhalten. Bei diesem Verfahren nutzen Forscher Myonen – instabile Elementarteilchen – um Vorgänge in Materialien zu untersuchen. Insbesondere lassen sich damit Magnetfelder im Inneren eines Materials vermessen. In Europa können Myonen-Spektroskopie-Messungen nur an zwei Forschungszentren durchgeführt werden.

Konkurrenz der Kräfte

Der theoretische Physiker Prof. Dr. Johannes Reuther, HZB, konnte nun mit Hilfe dieser experimentellen Hinweise das Bild von Spinflüssigkeiten entsprechend erweitern. Mit numerischen Simulationen zeigte er, wie die verschiedenen magnetischen Kopplungen in Kalzium-Chrom-Oxid miteinander konkurrieren und die Spins in dynamischer Bewegung halten.

Mehr Kandidaten für Spinflüssigkeiten

"Wir haben experimentell nachgewiesen, dass interessante Quantenzustände wie Spinflüssigkeiten auch in deutlich komplexeren Kristallen mit unterschiedlichen magnetischen Wechselwirkungen auftreten können", sagt Dr. Christian Balz, Erstautor der Arbeit. Und Bella Lake erklärt: "Die Arbeit erweitert nicht nur das Verständnis von kristalliner Materie, sondern zeigt auch, dass es sehr viel mehr Kandidaten für Spinflüssigkeiten gibt, als erwartet. Dies könne in Zukunft für die Entwicklung von Quantencomputern interessant sein, denn Spinflüssigkeiten gelten als mögliche Bausteine für kleinste Informationseinheiten, die so genannten qubits.“

Zur Publikation: Physical realization of a quantum spin liquid based on a novel frustration mechanism, Christian Balz, Bella Lake, Johannes Reuther, Hubertus Luetkens, Rico Schönemann, Thomas Herrmannsdörfer, Yogesh Singh, A.T.M. Nazmul Islam, Elisa M. Wheeler, Jose A. Rodriguez-Rivera, Tatiana Guidi, Giovanna G. Simeoni, Chris Baines, Hanjo Ryll, Nature Physics (2016)

DOI: http://dx.doi.org/10.1038/nphys3826

arö

  • Link kopieren

Das könnte Sie auch interessieren

  • Grüner Wasserstoff: MXene als Katalysatoren für die Sauerstoffentwicklung geeignet
    Science Highlight
    09.09.2024
    Grüner Wasserstoff: MXene als Katalysatoren für die Sauerstoffentwicklung geeignet
    Die Materialklasse der MXene besitzt vielfältige Talente. Nun hat ein internationales Team um HZB-Chemikerin Michelle Browne gezeigt, dass MXene als Katalysatoren für die Sauerstoffentwicklungsreaktion bei der elektrolytischen Wasserspaltung geeignet sind. Dabei arbeiten sie stabiler und effizienter als die derzeit besten Metalloxid-Katalysatoren. Das Team hat die neuartigen Katalysatoren für die elektrolytische Aufspaltung von Wasser nun umfassend an der Berliner Röntgenquelle BESSY II und am Synchrotron Soleil, Frankreich, charakterisiert.
  • SpinMagIC: EPR auf einem Chip sichert Qualität von Olivenöl und Bier
    Nachricht
    04.09.2024
    SpinMagIC: EPR auf einem Chip sichert Qualität von Olivenöl und Bier
    Bevor Lebensmittel verderben bilden sich meist bestimmte reaktionsfreudige Moleküle, sogenannte freie Radikale. Bisher war der Nachweis dieser Moleküle für Lebensmittelunternehmen sehr kostspielig. Ein Team aus HZB und Universität Stuttgart hat nun einen tragbaren und kostengünstigen „EPR-on-a-Chip“-Sensor entwickelt, der freie Radikale auch in geringsten Konzentrationen nachweisen kann. Nun bereitet das Team die Gründung eines Spin-off-Unternehmens vor, gefördert durch das EXIST-Forschungstransferprogramm des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz. Der EPRoC-Sensor soll zunächst bei der Herstellung von Olivenöl und Bier eingesetzt werden, um die Qualität dieser Produkte zu sichern.
  • Trillium-Gitter in Langbeiniten ermöglicht Quantenphänomen
    Science Highlight
    23.08.2024
    Trillium-Gitter in Langbeiniten ermöglicht Quantenphänomen
    In der Materialklasse der Langbeinite wurde eine 3D-Quantenspinflüssigkeit entdeckt. Gründe für dieses ungewöhnliche Verhalten liegen in der kristallinen Struktur und den dadurch bedingten besonderen magnetischen Wechselwirkungen. Dies hat nun ein internationales Team durch Experimente an der Neutronenquelle ISIS und theoretische Modellierungen an einer Nickel-Langbeinit-Probe gezeigt.